Ein Gespenst geht um auf Zürichs kostbarem Pflaster – das Gespenst der zweitklassigen Lyrik. Alle Mächte des alten Städtli haben sich in heiliger Andacht um dies Gespenst verbündet, der Feuilletonpapst und die Literaturzarin, der Kritik-Metternich und der Verlag-Guizot, die Radikale jenseits des Sihl-Kanals und die Polizisten von der Falkenstraße.
Das Gespenst, das real existierende, ist bei guter Laune. Es hüpft vor Freude, schnellt bis an die Stuckatur der Anerkennungsdecke, klammert sich an den milde glitzernden Gabenlüster und lacht sich ein Loch in den preisgebietenden Ranzen. Es hat freie Bahn. Für das Gespenst, dies real existierende, ist alles frei, frei die Kulturseiten und die Alternativkneipen, frei die Zeitungen und die Monatsblätter, frei die Theaterkeller, die Buchhandlungen, die Galerien, das aufgelassene Industriewerk, die leeren Brauereien, frei die Straße. In diesem seinem Reich teilen sich Epigonen und Eklektiker, Häretiker, Renegaten und Dilettanten die Macht, koalitionieren und belächeln einander in mehr oder weniger feindschaftlicher Einigkeit.
Des Gespenstes Stimme ist kritisch, ohne notorisch selbstkritisch zu sein. Hoch hält es die Fahne, es schreibt sie selbst. Das Gespenst ist sehr offen. Durchlässig, fast. Seine Farblosigkeit ist sein Schillern. Ankündigen sein Auftreten lässt es gern durch röhrendes Blech mit populistischen Rhythmen – aber auch durch den feinen Dunst zarter Zupfinstrumente. Sein Wort ist nie ein Schrei, nein. Da oben, an den Himmeln, ist es kaum mehr hörbar. Seine Basis? Eine graue, schweigende Mehrheit, leicht angestaubt, die zur Kultur, dem Zaubertrank, einem Ersatz für Gottesfürchtigkeit, drängt. Die Gemeinschaft verlangt nur eins vom Gespenst: Gemeinplatz. Das Licht muss jederzeit mühelos aufgehen. Sie ist die neue Partei einer neuen Kirche. Das Parteibuch: ein Band leichtverständlich-lakonischer Zeilenbrecherei, gespickt mit der Brisanz staatsstichelnder Kritteleien. Auf tannenen Ivar- oder Billy-Regalen prangt der Band, nicht rot, schon gar nicht schwer, in edlem Schuber, vielleicht einst aufgeklappt zum Signieren – und seitdem nie mehr.
Das Gespenst ist zumeist von windiger Selbstsicherheit. Halb ist es dem Geist, halb dem Wein verfallen. Halb ist es Lehrer, halb autodidaktischer Feierabendschreiber. Halb ist es Lüstling, halb gurusüchtiger Indienfahrer. Halb hängt es an den fetten Brüsten der Plutokratie, halb an der modrigen Idee des Proletariats. Es ist nicht wählerisch. Auf Anruf geistert es gern, es ziert sich nicht, auch im Dreck transportierenden Boulevardblatt, sich freuend auf ein besonntes Plätzchen zwischen Seite-3-Busen, dem letzten Fressen der Modeauslese, der FIFA-Mafia oder Werbekreme, und der sexuellen Aberration eines Stardirigenten. Berufen tut es sich auf Schritt und Tritt auf große Namen, zu deren direkten – nicht sehr zahlreichen, versteht sich – Nachkommen es sich zählt.
Das Gespenst schlägt nicht errötend die Augen nieder, wenn es in Hochburgen oder HiTech-Schlösser des von ihm ansonsten fleißig ausgezischten Systems geladen wird. Nein, das Gespenst verliert das Gesicht nicht, im Gegenteil, schließlich tut es dies und auch sonst fast alles ohne Eigensucht: Alimente müssen nun mal gezahlt werden, das Rusticorefugium im Tessin ausgebessert etc., und überhaupt – der Kampf um die Medienpräsenz geschieht nur im Dienste einer gottgewollten Berufung. Das Talent, das ihm die schweigende Lesermehrheit bestätigt, verpflichtet.
Mit der Literaturbürokratie – hinter vorgehaltener Hand gern als Kritikergeschmeiß gelistet (wie sagte doch Thomas Bernhard? Inkompetenzschmierer? Und rief nicht Goethe zum Rezensentenmord?) – tut es eher unterwürfig verkehren. Es trachtet danach, mit den zuständigen V-Herren freundschaftlich stammzuhocken und/oder genossenvereint zu marschieren, die V-Damen manierlich mit Wangenkuss (links-rechts-links) zu grüßen. Mit dem Spiel eines Lächelns, selbstquälerisch, um die zusammengekniffenen Lippen erträgt es hie und da eine Abkanzelung, etwa durch eine gelehrte Dame, wenn diese aus der feinen Villa im feinen Vorort mit ein paar Tropfen noblen Rotzes die geistigen Fähigkeiten des poetelnden Habenichts, des dichtenden Nichtsseins im Weltblatt bespeichelt; und ebenso schluckt es trocken, wenn z. B. ein sensibler Kritiker, mit Brechtmütze und aus dem modisch-verlotterten Stadtbezirk, sein Gedichtchen, als wäre es ein Stück dünngekackter Kuhfladen, hinklatsch auf die dusselige Kulturseite, ohne Rahmen, pietätlos, ohne Spaltenabgrenzung zur just daneben vervielfältigten Kitschbombe eines – durch die Kunstkritik jener Zeitung auf da-Vinci-Niveau gelifteten – Malers.
Ein Pinsel, einfältig (die feine Vorortsdame hat recht), der da nicht comme il faut mittänzelt. Ein Hurensohn, der sagt, das Gespenst habe Angst vor allzu genuinen Gedanken. Das Originelle, das nicht dada stammelt, ist ja – Verleger-Guizot weiß es – sowieso ohne Marktchance. Was soll da eine Gegenwelt, ein gottverdammtes Chaos an Metaphern?!

PS: Anmerkung für Neugeborene: Der erste Absatz ist, sehr frei, einem alten, sehr alten, Manifest nachempfunden

(aus einer Zeitschrift)

←zurück