Müller, Hanspeter D.

Über Hanspeter D. Müller ist uns leider nur das bekannt, was in dem Artikel nebenan steht. (Der Artikel ist aus einer Züricher Zeitung übernommen.)

Von der Kirchgasse zum Hirschenplatz oder die wissenschaftliche Ökologie der Pflasterung. Gedichte. Edition Vino Penoso, Münstergasse 15, Zürich 1991, CHF 19,80

Hanspeter D. Müller –
eine literarische Novität des Jahres 1991 aus dem Züricher Niederdorf

Angefeuchtet – das muss ich diesem Dichter lassen – schmeckt das Viertel am besten. In den Gassen des Züricher Niederdorfs wacht man tag und wacht frau nacht, doch angefeuchtet, gegen spät abends, schmeckt dies Getto am besten.
Spät abends, wenn sich an der Bar der „Cantina“ die Alkis versammeln und die Novembertanzratten über die letzte Schuhmode tuscheln, oder eine Treppe höher (Hochparterre! zeitschriftgemäss), in der Schummrigkeit der „Tina-Bar“ die Tagesschau- und Blattmacher, die Zeilensteller und Grafiker das dritte Cüpli oder das sechste Glas Hottinger bestellen, wenn in der „Malatesta“ die Sozialdemokraten ihrem gellenden Italofußball lauschen, im „Barfüsser“ Araber, Türken, CH-Kids und andere Fast-Ausländer die Luft mit ihren Joints ankränkeln, während hinter ihnen, im dunklen Bauch des Raumes, der Schreiber Freddy und der Weltwoche-Feinschmecker zusammen mit den vielen netten Schwulen an ihren Gläsern nippen, wenn nebenan im „Zähringer“, verborgen unter Tofu-Aschenbrödeln, die junge Theaterkritikerin des Züricher Weltblattes, still und tastende Herzen unverzagt abwehrend, lustlos in der Opulenz ihres Biosalats stochert, oder – bereits am Rande des Bezirks – in der windfreien Sterilität des Kunsthaus-Restaurants der pensionierte Oberrichter an seiner zweiten Stange fingert und des Dichters Namensvetter Herr Müller, Architekt, genannt Seepark, zum Zitronentee die NZZ entfaltet, dann ist die Stunde Hanspeter D. Müllers da.
Müller ist – ich erlaube mir den albernen Ausdruck – ein neuer Stern in der Züricher Lyrikszene. Er schreibt Gedichte, die, den Ort, wo sie entstehen, desavouierend, ohne den weichen-bleichen Schmer der (käuflichen) Erotik und ohne Alkoholfahne auskommen, die nicht mit klagenden Kritikasterzeilen die Schleier von den Missständen reißen – in Müllers Gedichten wird nichts und niemand bloßgestellt. Kein Döschen Zynismus findet sich da, es fließt kein Blut, kein Morden findet statt. Nur, alles nur saubere, athletische, ja keusche John-Valentine-Gedichte. Heutige Gedichte liegen da vor, um mit einem gern verwendeten Adjektiv des Vera-Piller-Lyrikpreises (aus Schweizer Provinz) zu leben. Es liegt mir ein Band vor, der mit seinen 196 Seiten wohl vollschlank zu nennen ist, mit etwa 150 geraden Gedichten in Konsumreife und in unprätentiöser Kartonbindung. Zwischen den Gedichten finden sich Computerzeichnungen der putzigen Art, die mich an Mac-Paint- und Superpaint-Zeiten erinnern, und über deren Daseinsberechtigung in diesem Band sich streiten ließe.
John-Valentine-Gedichte – nur schon der Wohnort des Dichters rechtfertigt das Gleichnis: Kaum zwei Minuten vom Fitness-Center mit dem gleichen maskulinen Namen, wo sich abends und samstags die Kraftfahrzeuge mit den rammelnden Karnickeln am Heck, den Europapark-Klebern oder dem Fischsymbol schöpfungsvergasender Christen einfinden, kaum drei Minuten von diesem Center entfernt wohnt Hanspeter D. Müller in einem alten, auf HiTech gestutzten Waschhaus, mitten in einem jener barocken Gärten, die verborgen hinter Altstadtgemäuern, fern vom lärmigen Leben, dem finanziell Potenten ein Refugium mitten im Zentrum bieten. Ein Biedermeier-Waschhaus mit Glaskeramikherd und all der trendigen Zutat moderner Bautechnik und -chemie – man merkt es, Müller muss nicht von seiner Schreibe vegetieren. Die Gedichte sind denn auch Nebenprodukt eines mittleren Akademikerlebens.


„Kein Traum, seufzervoll und seufzerlang,
Findet sich zwischen den Grossmünstertürmen,
Wegkehrend den Verkehr aus den Gassen.
Und auch die Limmat bleibt stumm. Gähnen.“


Der Stil der Gedichte, wenn überhaupt von einem Stil gesprochen werden kann, ist so wechselhaft wie das Wetter in einem Lebenslauf. Hanspeter D. Müller ist 48 Jahre alt, der Band ist seine erste Veröffentlichung (außer akademischen Papieren); geschrieben ist es in einem Großraumdeutsch, das von keinem Lateralwind des Gesuchten angeblasen wird.


„Zwingli ist bleich. Entsetzt über
über die Randale im Unterdorf, den
Kakophonischen Orkan. Die Vorhölle,
Zischt er böse, dieser Hirschenplatz.“


Ein bisschen kenne ich das Leben Hanspeter D. Müllers. Ein Glas Wein durfte ich auch schon in seinem Waschhaus trinken. So kann ich sagen: Es überrascht mich, dass seiner Lyrik das Dozierende seiner Alltagsstimme weitgehend fehlt. So kann ich auch sagen: In Müllers Brust wohnt nicht nur das Trockeneis des Akademikers, er kennt sehr wohl die Rührung der Höhe und die Erschütterung des Abgrunds. Einmal sprach gar dieser Empfindsame in der Kneipe, mitten in einem Krisentief, von „Homizid oder Suizid“, das nun gelte …


„Dort lag dann mein Körper, doch noch stehend,
Das Auge, das Hirn, das Gesicht blutverschmiert,
Im Kopf der Bogen, gespannt, des Schmerzes,
Im Bauch dieses Ziehen, nicht herausreißbar.“


Hanspeter D. Müller stellt sich, wie die Figuren an seinem Stammtisch heute sagen, mit diesem Band mutig der (literarischen) Öffentlichkeit. So sagen es jene Figuren, ganz ohne akzentuierende Bäuerchen. Müller zeigt, so die Kumpanen, um welche Werte „es geht“ in diesem Vergnügungsviertel, dass er z. B. innerhalb des Niederdorfs für eine ökologisch bewusste Umgebung „kämpft“. Tatsächlich: Laub kommt vor in den Gedichten, auch das Wort „grün“ des Öfteren. Man merkt auch: Müller, als kultivierter Mensch, ist kein Autobesitzer. Doch kämpfen? Eher schwermütig blickt er in sein Panoptikum:


„Vor den Fenstern des Bluätigen Duumens,
Vor den Schiefertafeln, die vom
Wohlfeilen Essen künden,
Wundere ich die Talmiverkäufer an.
„Volk, aus venezianischen Figuren, als
Wäre Fastnacht, wieder Klamauk und Stumpfheit;
Wie gleich sind heute diese Köpfe von hier
bis Warschau, bis San Francisco.“


Ein Buch ist geboren, wir sind um einen 700 g schweren Gedichtband reicher, der – so lese ich im Impressum – in stolzen 800 Exemplaren gedruckt worden ist. Ich mutmaße und kombiniere: Der Mann, der da Jahre fleißig an seiner Lyra zupfte, wird möglicherweise die ganze Auflage, restlos, nach Hause tragen dürfen; und sein Verleger (etwa die Bodega española selbst?) wird sich sagen im Stillen: Wer derart dick den Saft aus der Leier presste, der wird auch am Rosenhof-Markt – viel eher als am karnivoren Buchmarkt – mit seinen Gedichten als Ware ganz gut auftreten können.
Eine zynische Bemerkung, ich weiß. Aber mein Beifall, lieber Hanspeter, mögest du mir die Verwendung der abgegriffenen Kerr-Worte verzeihen, ist endenwollend.


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