Millán, Ricardo

Nach Auskunft des Wiener Verlags "Dazwischen", in dessen Programm Milláns Gedichtband "Fels in der Hand" in einer Übersetzung erschienen ist (nebenan eine Besprechung) – ist der Dichter 1950 bei Murcia geboren. Der Auskunft beigefügt war die folgende (angejahrte) Feuilleton-Meldung:
Der "Premio de las Palabras detenidas", der "Preis der verhafteten Wörter" ist soeben – im Vorfeld des internationalen Writers-in-Prison-Day (15. November 1990) – an den Dichter Ricardo Millán vergeben worden. Mit dem Preis wird keine Geldsumme verliehen, sondern dem Preisträger ein (berühmter) Anwalt zur Verfügung gestellt. Der Laudatio wird Ricardo Millán bei der Feier kaum lauschen können – er sitzt zur Zeit wegen verschiedener Eigentumsdelikte in Madrid im Gefängnis. Der sozialistische Premier Gonzalez hat seine Begnadigung abgelehnt.

Fels in müder Hand

Ein Gedicht ist – dies wird allen Verselesern, jenen elitären Aficionados, bekannt sein – einiges mehr als die wägbare Summe seiner Wörter. Maßgebend sind nicht nur die Worte, die dicke Luft zwischen den Zeilen. Das anspringende und verlöschende Spotlicht des Silbenreigens. Die jagenden Wolken in den aufgebrochenen Spalten. Die aufschreckende Dissonanz der Farben. Das Leben, das aus dem Geruch der Verben entsteht; die Flut, Eisschollen treibend, der Substantive, die Dämme einreißt.
In den Gedichten Ricardo Milláns ist dieses Dazwischen der Stein. Das Wort selbst kommt zwar im Band kaum zehnmal vor – es ist die evozierte Zeit in den Gedichten, die einem versteinert scheint. Steinern wie Erinnerungen. Das leichte romanisch-mediterrane Blau wird eingetauscht gegen eine – durchaus lebendige – Steinwüste. Darein sind die Gegenstände, die Wörter, geworfen – ihrer gewohnten Umgebung beraubte Gegenstände, die sich dem Schatten zuwenden, ja, selbst schon Schatten sind. Auf der Schwelle zu einem Metasein, zur abstrakten Erinnerung:

Wertlos ist dein Kabinett –
der Schätzer hinter dem
schmierigen Pult der Pfandleihe
verzieht die Lippen
zu einem ranzigen Lächeln
wenn du den angegilbten
Totenschädel aus Vorzeiten
hinlegst
die Silberringe deiner
ersten treulosen Frau

Die Dinge, die früher, vielleicht, in Schubladen rumlagen, ohne Zweck, ohne Verwendung, werden nun Schicksal. Muster ohne Wert zwar, aber mit Eigennamen versehen, fest umrissen mit dem Blei.

Hungern, das ist mehr als
ein gesättigter Magen.
Durch das Glas in den Laden
starren, auf den Pata negra jenseits, auf
nie versiegende Wälle aus Nahrung

– die Nahrung wird hier zu lastendem, zu einem massigen Stein, verliert ihre frühere Bedeutung, die Momentaufnahme erstarrt zum Felsblock. Dieser aber ist nicht der Gegenstand des Gedichts, dieser ist das verkörperte Gedicht – die Materialisation.

Die Furcht. Die alten Meister.
Halten das Gleichgewicht – schreitend
zwischen emailliertem Blechgeschirr.
Sie steigen von den Pradowänden,
scheppern mit Zinkpokalen, silbernen
Bechern vor dem monderhelltem Firnisgrund.
Der Schrecken kraftloser Schatten – ich,
Einnachtfliege, umschwirre Velázquez
im Spiegelbild. Die Aussicht ins Endlose,
jetzt: Ein unermesslicher Schritt.

Ricardo Milláns Poesie behandelt ihre Objekte als lebten sie; sie sind aber meines Erachtens trotzdem nicht gegenwärtig. Sind dies Einstigkeiten, sind es eben verlöschende Körper? Oder doch aufgerufene, evozierte, nicht dem Zufall überlassene, in Melancholia getauchte menschliche Kreationen?