Lugano, Piazza della Riforma, Juni 1985

Weicher Platz. Kolorierter Bizeps der Massen.
Über dem Rot, falschem Lied aus Eternitschalen, der Credito Svizzero
starrt bleichsteinern, fahle Italianità nur,
San Lorenzo, Kuppel, feiges Grün, Knolle,
thronend aus verwischten Zeiten.
In der Sonne, grober Stein, ragt ein brauner Arm,
die Brust schlenkernd, gepeept, abgetastet,
Stück Treibholz im Geröll der Strahlen –
sie fällt nun: Im Kopf krümme ich
die Hand, strecke sie vor.

Licht, in sich verschlossen.
Bierseidel, gläsern, jovial gegossene Dumpfheit,
das Ehepaar, Rhode Island, stösst an.
Pose, geknipst, mit Halblitermacht.
Plump, in die gedunsene Hand, irden,
eingebettet ein Zeitungsbund, knallige
Bilder, Vokale in finnischer Reihung.
Neben der Bildzeitung der Schweizer Blick –
obligater Müll, klar aus Menschsein.

Abschüssige Gedanken.
Gedanken, Mittagsschatten, kurz.
Uniformen auf Mofas, Revolver, Augen –
ein frostiges Land starren mich an.

Altersflecken, lachend.
Campari, der zweite, Soda, herb, giftrot.
Aus den Banken tänzeln, säuselnde Schnittblumen,
die Smarten – ausgesuchte Gewöhnlichkeit, flügelschlagend.
Eine Mädchenschule, unförmig,
üppige Wolke, amerikanisch, befällt
die Tische, bricht, nach Minuten nur, auf:
there is cheaper the other one.
Die Unordnung, zurückgelassen, räumt
missgelaunt der Kellner auf und
versteht "Ein großes Bier!", Ruf,
breit, eine Ohrfeige, stiefelgetreten,
ohne "bitte", auf Deutsch.

Aufschreien. Ein Schrei ist nur Leben hier.
Stadtmitte, Bizeps der Massen.
Nur mein Traum, enggezurrte Haut,
ein nebliger Ball, still,
dreht sich hier eiernd.



Novaggio. Barbera.
Dreibeiniges Lamento, Barbera, sentimentaler Nahblick


Barberabiss.
Über einen langen Schrei geschüttet.
Barbera aus Wasserglas,
milchig vom Scheuern.

Ein Geschmack, angefaultes Feuer da, ein
Geruch in diesem Biss, gierig, aus lichtlosem
Weinfleisch. Barbera, Roter mit breitem
Gesäß, der den Schrei, ausharrend, aufhält.
Weinflamme, unlustig, plattflach, trödelt
lange am Gaumen. Biss wieder aus diesem
Wasserglas, das milchig gescheuert,
Krakelee vom Spüler, Spuren, gekratzt
durch Zähne, durch Jahre durch,
wahrscheinlich, vor diesem fahrigen Abend.
Staub ufert auf den Möbeln, Russ klebt,
geschmort. Wärme, feuchter Pelz, lagert in
Schichten. Unter dem Tisch, unwillig hebe
ich den Fuß, kumpelhaft zwinkert meine
Unsicherheit aus dem Dunkel. Worte,
tessinisch, um Karten ein Streit, simili, in
Dialekt. Münzen. Über mir, Massentrieb,
längst gewohnte Unwirklichkeit der Tage,
kracht der Fernseher, ein Ton, kalt ritzende
Kahlheit, stählern. Ich, mein Chaos ist zu leise
noch, drehe die Worte: angegammelte
Stückchen hier vom Leben, Zeichen, flache
Fladen, auf diesen Notizblättern.

Die Blahe, grob, der Nacht liegt über den
Hügeln. Ein Glockenschlag, Schuss,
abgedrückt, ein Erinneredich, klackend rollt
in den spärlichen Räumen der Gasse; der
Laut, Knochengerüst nur, zwischen den
düsteren Hausmauern, stößt an Palmen,
fröstelt. Im Dämmern der Wände die Tür, ein
tätowierter Schimmer, aufgestoßen, durch
den Lichtstrahl schwappt auch, unwirtlich
scheppernd, dieser Dialekt: So
setze ich mich hin. Blicke, durch torkelnde
Worte, im Regen dieser kindischen Kiesel, in
ein freies Eck. Vorstellbar, murmle ich –
und streichs gleich wieder –, in
dieser Mundart hausend, diesem
ruralem Überkleid, zu schreiben, in
diesem schotterigen Tessinisch zu leben.

Leben. Kaltnadelzeichnung aus der Flasche:
aufplatzende Satzwunde, Biss, geritzt, das
reiche Leben, Freund, du wirst gedengelt.
Kunstwerk, geronnen, Kettenkreis von
Monden, aus einem Tollhaussaal geschobenes
Eisenbett. Auf dem Klinker
Klumpen, hell bröckelnder Dreck,
sausenfeucht, von den Schuhsohlen.

Zeichnung, Kaltnadel, geritzt in den Ohren:
aufplatzende Wortwunden – am Suff, reich,
Freund, wird gehämmert.
Kaltnadelzeichnung aus der Flasche. Das

Telefon in einem muffigen Winkel. Ich
stehe auf: Zwischen den Gläsern, anwachsende
Gesellen, rufe ich die Freundin im Norden. Das
vage Bedürfnis, mit, nach einer Woche, einem
Menschen reden; der Wunsch, ein trübes
Waisenkind, die Sehnsucht, ein tückischer
Vogel, regt sich unter der Stille, holprig, des
Alltaggerippes. Lust regt sich, gefühliger
Barbera, auf die Wärme von Wiesen, fett,
im Innern, auf selbstredende Hände, einen
Schatten, warmherzig, aus der Wüste der
Sterne, Lust auf all die nebligen Gäste der
Liebe, die uns, in weichen Nächten mit der
Frau, manchmal in Gartenkneipen
sommers, besuchen. Tönerne Tränen. Nicht

viel haben wir zu sagen. Keile, stumm, des
Zusammenlebens: Einäugiges Sprechen. Rechtwinklige
Mauern des Partnerdrangs, Wände,
spanisch, zwischen den falschen
Stimmen der Liebe. Gefühle, seifig jetzt,
perlen an den Wänden. Ich bleibe zurück, mit
der Luft, klobig, des Weins in der
ausgebeinten Psyche. Mein

Arm klebt auf der Plastikdecke, blaublumig,
des Tisches, die der Freundin schon
aufgefallen, früher, wo anders. Kaffeetassen,
Schmortöpfe, angeordnet im Reigen, steril,
dörflicher Designer in den Tessiner Wappenfarben,
blau, in der Musterung, rot. Sie

ruft zurück. Morgen, 19.59, Bahnhof
Lugano. Zeitstein, Gitter, exakt
gezogen, nun, durch diesen Dunst. Regnen
wird es, dunkel, schwarzer Barbera des Abends,
morgen, wenn ihr entgegengeblickt. Der

Arm, unschlüssiger Ast, die Hand, zitternd
in Gedanken nur, greift, am Salzfass, am
melancholischen Pfeffer vorbei, nach dem
Wasserglas voll Wein, wieder. Wir trinken. Wir
betrinken uns, mit Versen, mit Worten auch,
einzeln, narzistisch, niemals aber, Sieur Charles,
niemals mit der Tugend. Wein, fader, diese,
schaler Schleimer, bleibe den Philistern,
Meistern einer krumm verstrebten Welt, den
Theologen der Moral, den Schnitzlern am
Stein, meckernd. Wir trinken, Sieur Charles,
trinken diesen Barbera, schwarz, wir trinken
ihn des Abends, und trinken, der Tod, mit
dem Auge, altblau, den behandschuhten
Händen, ist abgemeldet für heute. Lärmige

Einsamkeit der Kneipe, zurückgeworfen
horche ich, starre nach innen, auf die
Flecken, durch Nässe getrieben, im Verputz
der Mauer, wächsern. Ein Sparkassenschränkchen,
Taubenschlag für die assoziierten Kartenspieler,
Autorisparmio, fallende Münzen.
Welt, zufrieden, im kleinen Leben. Daneben
im Finstern, verschämt, tänzelt ein
Kreuz, halleluja, legierter Herr, Herr aus
Blei, des Menschen Schwachsinns Sohn,
ich nehme es, sieh, leichter, ich
nehme es hier, schau, dies Glas, ich nehme
es mit Wein. Den Urgarten hier schaffe ich
mir, den Juden und ihre Christen, äffisch, für
Wonniges aus der Welt hinausgesiedelt, die
Lust des Eden löffle ich, und mein Ahn draußen,
asiatisch, ein träger Kiebitz, lacht über
den Zaun der Jahrhunderte

hier, aus den Flecken, wächsern, dort, der
Tapete, mein Eden in den weichen Zeichen,
irden, der Mauer, ein Wulst, Muscheleingang,
wachsüberzogen, fleischiges Glänzen,
Schaumkrönchen, dort die Gerte, fester
nun, ragt, und Monde, zart hüpfend, warme
Knospen mit Höfen, appetitlich, ich trinke
Licht, und nicht nur, ein Kitzler, scheckig,
verborgen, keuschrot zum Zungenreden. Ich
trinke Licht, wir essen Feuer, ein
Arschtürchen, anmutig, und der Strahl,
Strahlen, schießend aus der breiten Wolle, ein
Vlies, dunkelgold, und das Glied, vom o,
bleu, des Mundes umschlossen.

Ein Gedicht, anders, für später. Ich
hebe die Hand, untätig die Serviererin,
Diseuse, siegesgewohnt, vor dunklem
Vorhang, sitzt, den Blick geheftet auf das
Gesicht, versteinert, eines Indianers, sie klebt an ihm,
Talmiindianer des Bildschirms, die
Karaffe, geleert vor mir, rührt sie nicht.
Rufen, nach dem wievielten, mein Vabanquespiel,
getraue ich mich nur mimisch. Sie
steht auf. Ihr Blick, ausfallend, streicht
über die Tischplatte, das Schreibzeug,
berührt mein Gesicht. Sie geht abwaschen.
Ein Abschied vom Jüngling, milchig, der
neben ihr sitzt, träge schwimmen Krümel
der Eifersucht um ihn. Der Wein

Droge, licht, der Fantasie, im Magen der
Druck, ein langsamer werdender Rausch,
Übelkeit, Gezeiten des Weins, ein
Degen nun dieser Barbera, scharf
stochert er von Zunge bis Magen, und
ich träume, warum träume ich nie vom
Suff, zahlen noch, ein Spießrutenlauf,
knille Wallung, ein unfreundlich langer
Weg, der Wirt hat einen Brassens-
Moustache, die Tagesschau noch, sagt
schlechtes Wetter an, morgen, 19.59

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