kunsthaus zürich alinea

16 Sequenzen mit Graphen in unterschiedlicher Anzahl sind als Notenmaterial zu freier Ausmusizierung, von der Grafik evozierter Improvisation gedacht. Der aleatorische Gebrauch ergibt sich zwingend aus der gewählten Form, die eine Abkehr von den Klischees bisher gebräuchlicher musikalischer Notationen darstellt.

Die flexible, d. h. nach der Niederschrift noch formbar bleibende Gestaltung des Werks wird durch die Wahl von Quadraten als Eingrenzung nicht beschnitten: Die dadurch entstehenden Senkrechte und Waagrechte können als Ordinaten für Amplitude und Zeitkonstante gelten, als Hilfsmittel für Tempo, Metrum, Tonhöhe und -intensität herangezogen werden. Die Quadrate – oder Graphen – sind nur aus raumtechnischen Gründen ohne spezielle Bedeutung paarweise je Seite angeordnet worden. (Der Begriff des Graphen ist aus der Kybernetik entlehnt, der Graph dient dort zur meist geometrischen Darstellung von Relationen oder als Methode zur Aufzeichnung von Systemstrukturen.) Durch die hier gewählte Aneinanderreihung der Graphen wurden zwar Vorgänge festgelegt, werden Verläufe suggeriert, die Kombination der Formteile wird aber vom Interpreten abhängen, im Einzelnen also vom u. U. gewollten Zufall gelenkt. Naturgemäß wirkt sich die horizontale Gliederung als Taktwert usw. gemeinsam mit der vertikalen aus. Aber das Prinzip der Aufgerichtetheit, das Unten-Oben, das Metrum der vertikalen Maßfolge ist für die Gestaltung der entstehenden Musik entscheidender als jeder Schritt in der Waagrechten.

Da man selbstverständlich mit jeder beliebigen Sequenz oder auch mit jedem Graphen zu spielen anfangen und aufhören, überall innehalten und unterbrechen kann, ergibt sich eine quasi unbegrenzte Anzahl von möglichen Ordnungen. Die logische Struktur von alinea wird durch dieses Verfahren unangetastet bleiben, es bildet sogar zu einem großen Teil die beabsichtigte aleatorische Funktion der Partitur, die musikalische Zufallsform.

Die nicht als instrumental, vokal, szenisch oder gemischt festgelegte Form oder Gattung – von der Logik der inneren Struktur von alinea abgesehen, die ebenfalls Form genannt werden könnte – ermöglicht ferner die sich entwickelnde, dynamische Gestalt, die mit der Aleatorik eng zusammenhängende offene Form. Auch wenn stellenweise der Bedeutungsgehalt und die Textur, die Formation im Voraus determiniert erscheinen mögen, bleibt alinea ein in jeder Hinsicht unverbindliches Musikstück im Sinne der offenen Form.

In der Notation von alinea sind Zeichen, die unmittelbar Musik intendieren, die herkömmliche Notationsform also, wie auch neuere Schriften, bewusst weitgehend vermieden worden. Die hier verwendete grafische Notation arbeitet mit Zeichen, die ganz auf die Ästhetik der Grafik ausgerichtet und deshalb auch frei von Verbindlichkeiten sind. Die angewandte Schriftart beruht ursprünglich auf der Idee der Aktionsschrift, deren Linien, Kurven, Schattierungen, Notenfragmente dem Interpreten den Weg zur Klangrealisation zeigen.

Aus dieser Schrift ist dann folgerichtig die musikalische Grafik entstanden, deren utopisches Ziel (utopisch im positiven Sinn), auf imaginativem Weg halluzinatorisch hörbare Musik erstehen zu lassen, wegen der scheinbaren Widersinnigkeit von visuellem Hörvorgang und der scheinbar amusikalischen Unbestimmtheit, wie fast jeder avantgardistische Versuch, vom zuständigen Establishment meist abgelehnt wird.

Für die Realisation ist hier im Gegensatz zur der Annahme vieler Musiker keine Dekodierung der Grafik in präzise Zahlen und andere Werte notwendig – außer der Aktivierung von Fantasie und Psyche als Ausgangspunkt. Die nur ungefähre Andeutung von musikalischen Werten ist ja nicht neu, im gewissen Sinn sogar atavistisch. Dieses Zurückfinden zu elementaren Formen und die daraus aufbrechenden neuen Wege sind auch bei anderen Kunstgattungen mit mehr oder weniger großer Zeitverschiebung zu beobachten.

Die Improvisation der meisten Musiker gerät heute immer mehr zu einer Wiedergabe von auf akademischen Weg angeeigneten Weisen, erlernten, starren Folgen, deren Reproduktion dann nur unsystematisch erfolgt. Der Interpret soll die vor ihm liegende grafische Partitur nicht nur interpretieren, sondern nochmals komponieren, quasi neu überarbeiten; die Einmaligkeit seiner Interpretation oder eben seiner "Komposition" anlässlich einer Aufführung kann mit einigen Erklärungen auch dem Publikum bewusst gemacht werden. Der Spieler soll aus seiner akademischen Ordnung, aus seiner metrischen Fixierung herausgeholt und in den schöpferischen Akt der Komposition mit einbezogen werden. Etwa wie die Musiker der Gruppe "Nuova Consonanza" von Franco Evangelisti verschiedene Instrumente in diversen Formationen abwechselnd spielen, wie sie bei der Arbeit im Ensemble ganz aufeinander eingestellt sind, könnte Improvisation aussehen. Konzentration, spielerische Provokation und entsprechende Reaktion sind Hauptelemente solcher kompositorischer Interpretation; zum ersten Mal in der abendländischen Musikgeschichte, nach Evangelisti, vollzieht sich ein solcher Prozess, in dem das ausmusizierte Werk nicht mehr das Resultat der Bestrebungen einer einzelnen Person ist, sondern eines die offene Form pflegenden Kollektivs.

Die Anregung zu spontanen Aktionen in einer Diskussion, auch zusammen mit dem Publikum, ist eines der Ziele von Partituren wie alinea und heute keine bahnbrechende Forderung mehr. Der Vorwurf der Unanschaulichkeit, der fehlenden Transparenz, der Unplastizität, der sich daraus ergebenden Behinderung des Lesens ist allerdings nur aus einer konservativ-rigiden Musikauffassung heraus verständlich.

Für musikalische Aktionen, synästhetische, multimediale Artikulationen ist die grafische Partitur meines Erachtens vorzüglich geeignet. Die Beantwortung der Frage, in welchem Ausmaß Musik mit dem Bild assoziiert werden kann, ist rein individuell wie die Perzeption eines Bildes von Kandinsky oder Pollock. Die Qualitäten einer musikalischen Grafik liegen natürlich vorerst im Bildnerischen, aber ihren Rang nur im Visuellen zu vermuten zeugte von naiver Fantasielosigkeit. Die Grafik bietet durch ihren Versuch, musikalische Schriftform in die Ästhetik der bildenden Kunst zu transponieren, durch die Polymorphie ihrer Teile, die Variierbarkeit ihrer Strukturen, die Nuancierung ihrer Versionen, die individuellen Reaktionen ihrer Interpreten punktuelles musikalisches Verständnis, Momente verblüffender, seltsamer Erlebnisse, tönender Aha-Erlebnisse, die in der Diskussion um die Berechtigung der Verbindung von Musik plus Grafik, oder sogar um die Daseinsberechtigung der musikalischen Grafik als autonome Kunstform, von entscheidender Bedeutung sind.

Sollte eine Realisation während und als Ergebnis einer Diskussion der Ausführenden mit dem Publikum entstehen, wäre die Schaffung einer zweiten Partitur, einer Aufführungs- oder Spielpartitur wünschenswert, wie sie bei Aufführungen von elektronischer Musik gebraucht wird. Wenn eine auf Tonband fixierte, d. h. bereits im elektronischen Studio entstandene Komposition elektronischer Musik während der Aufführung mit dem Beiwerk von instrumentalen oder vokalen Kompositionsteilen oder szenischen Aktionen versehen werden soll, kann die Spielpartitur mit Regieanweisungen, Gedächtnisstützen für die Mitwirkenden usw. hergestellt werden. Im Fall von alinea könnten die Graphen als Kompositionshauptteil in einer solchen Produktionspartitur durch Nummern o. ä. ersetzt, und daneben Symbole und schriftliche Aufführungsanweisungen für die verschiedensten Entwicklungen und Veränderungen gesetzt werden.

Solche einmalig zeit- und raumbezogene, von den dissoziierten Bedingungen der Kompositionsentstehung grundsätzlich verschiedene Produktionspartituren haben eine rein technisch-assoziative Funktion, sind im Hinblick auf die Vorführung differenzierter und unterscheiden sich von der grafischen Notation darin, dass sie eine ästhetische wie empirische Aufnahme der intendierten Musik kaum ermöglichen. Überall, wo ein freier Ablauf unerwünscht ist, etwa vor Neue Musik ungewohntem Publikum, kann die Produktionspartitur zu einem das ganze Schallfeld einbeziehenden Aktionsplan werden, der allen denkbaren, den Spielablauf beeinflussenden Faktoren Rechnung trägt: Instrumentalklänge, von außen eindringende Geräusche, chaotische Schallkumulierungen, Buhrufe, Zischen und andere im Voraus vermutete Unmutsäußerungen der Zuhörer, ferner gesungene Texte, szenisches Spiel, Licht, Filme, Requisiten usw.

Für eine szenische Realisierung liefert alinea das Material von lyrischen bis zu fast wissenschaftlich-dogmatisch zu nennenden Gruppenteilen, das Material für ein noch zu konstituierendes Bühnen-Leben. So ist alinea für die Theaterszene nicht Bühnenmusik oder so genannte Inzidenzmusik, unwesentlicher Bestandteil einer dramatischen Handlung, eines erdichteten Prozesses, sondern der bühnenmäßige Vorgang, die theatralische Funktion schlechthin. Durch reinen Rationalismus wird jedoch die von alinea initiierte Metahandlung kaum zu inszenieren sein. Nur in der sinnlichen Erfahrung, der Sensitivität und der aus ihr entstehenden Einbildungskraft einer individuellen Fantasie, die dem herrschenden (Kunst-)Marktmechanismus, dem Konformismus der Nonkonformisten zu trotzen vermag, sehe ich die Fähigkeit für die Ausführung zukünftiger Aktionsprogramme. Auf die Vernunft, die Steuerung durch den zusammensetzenden Intellekt, soll dabei keineswegs verzichtet werden wie bei dadaistischer oder neodadaistischer Aktionskunst, bei Happening, Fluxus usw. Interdisziplinäre Kunst, Mixed Media, der Medienverbund quer durch alle Gattungen von Tanz, Theater, Tonsetzung, Malerei, und ihren bereits bestehenden Mischformen wie etwa Eat Art, in einer einzigen environmentmäßigen Veranstaltung zusammengefasst, wäre die Reaktion auf die einseitige Ausrichtung des Denkens in einer Kunstform, als einzig noch mögliche Emanzipation. alinea als Versuch einer Neuorientierung, als Demonstration einer künstlerischen Grundhaltung transponiert die erfahrungsgemäß nur vorgeblich erlebte zivilisatorische Wirklichkeit auf eine Ebene abgeklärter Erkenntnis, in eine noch zu konstituierende Diätetik der Kunst.

Die Form der in alinea verwendeten Graphen, das Parallelogramm, losgelöst von allen Begriffen, bietet das Zusammenspiel rein erscheinungsmäßiger Elemente, die ein essentielles Experiment vermitteln. Der Graph zwingt auch unmittelbar zur Vergegenwärtigung eines dreidimensionalen Raumes, der wiederum aus Graphen bestehen kann: Zusammenklang verschiedener Vier- und Rechtecke, die neben- und übereinander gelagert sind. Zwischenräume schließen sich und entstehen neu, der menschliche Sinn, der instinktiv Ordnung ins Durcheinander des verloren gegangenen rechten Winkels bringen will, kann auch auf diese abstrakte Art des "Auseinandertönens", der Dissonanz, Musik erleben. Auch unabhängig vom Inhalt bleibt diese abstrakte Darstellungsform Mittler eines Teils der ursprünglichen bildnerischen wie musikalischen Idee.

Diese äußerste Art darstellender Abstraktion bringt alinea in ihrer geometrischen Erscheinung in die Nähe der konkreten Kunst, der "Abstraction-Création", nicht aber zu der "Musique concrète", zu deren realistischen Geräuscheffekten. Die konkrete Kunst verlangt Verzicht auf Lyrismus, Symbolismus, alles, was Naturnähe bedeuten kann, nur die exakte Technik des Werks, das der einfachen Visitation dient, zählt. Bei alinea geht es um eine Vergegenständlichung musikalischer Gedankeninhalte, um eine Konkretisierung abstrakter Ideen – also doch um konkrete Kunst, könnte man annehmen. Dabei handelt es sich hier sehr wohl um eine Fortentwicklung von der konkreten Kunst, die sich gerade darin manifestiert, dass weder lyrische noch symbolische Elemente abgelehnt werden, dass alineas Kunst bewusst an die menschliche Natur anlehnt, sie in die Konzeption einbezieht, dass also alineas Ikonografie nicht nur sich selbst darstellt, sondern gezielt so genannt verborgene Qualitäten der Psyche angeht.

Der Versuch einer Klärung der ästhetischen Bedeutung des Graphen als bildhafte Musikform, seiner Maße und Maßverhältnisse, führt zur versuchsweisen Deutung des dimensionellen Erlebnisses bei der Betrachtung. Die Bewegung der abstrakten Form an sich ist die vorwiegend aus dem Unbewussten wirkende Triebfeder der vorliegenden Formgebung. Die emotionale Natur dieser Arbeit macht es fast gänzlich unmöglich, ihre Gesetzmäßigkeiten in Regeln zu definieren, ihre Grundthemen zu ergründen. Einerseits versucht sich alinea, durch ihre geometrische Basis, an Exaktheit und Präzision, andererseits besitzt sie eine innere musikalische Struktur, die sie vorwiegend im Irrationalen ansiedelt.

Zwischen alinea – von der ich nicht als Musikstück, sondern als Grafik, als grafische Partitur reden möchte – und einer auf Grund ihrer Notation realisierten Musik gibt es Beziehungen nur auf assoziativer Ebene, semantische Gehalte entstammten nur einer subjektiven Erkenntnis. So wird die entstehende Musik über kein Maß für den Wert der Grafik verfügen – diese besitzt bereits als Bild Gültigkeit. Eine solche Grafik ist kein Kommunikations-, sondern ein Assoziationsmittel (um mit Ligeti zu reden). Die gleiche Grafik kann aus der verklungenen Musik nicht zurückassoziiert werden. Grafische Notationen dienen der Herausforderung des Interpreten, zu seiner Emanzipation. Die Ahnung ihrer ästhetischen Bedeutung und die Möglichkeit, ihre Regeln zu ergründen, lassen aus diesen Partituren Musik entstehen.

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